Das Ganze sehen

Hommage DOK.fest München 2023: Nikolaus Geyrhalter

 

Nikolaus Geyrhalter bei den Dreharbeiten zu HOMO SAPIENS © Simon Graf, Österreich 2016


Seine sehr persönliche Handschrift ist unverkennbar: Bildgewaltig, episch, opulent-hypnotisch. Geyrhalters Bilder, oft in grandiosen lotrechten Totalen mit tief gestaffelten Sound-Scapes, die wenigen, präzise gesetzten Worte der Protagonist*innen. Falls überhaupt ein Wort gesprochen wird.

Diese Ausnahmestellung hat sich Nikolaus Geyrhalter lang und hartnäckig erarbeitet. Als Autodidakt gründete er mit kaum 22 Jahren seine eigene Filmproduktion. Seitdem ist er als Regisseur, Kameramann und Produzent in Personalunion unterwegs zu den entlegensten Winkeln der Welt oder aber dem Universum, das sich unmittelbar vor seiner eigenen Haustür öffnet. „Als Dokumentarist stoße ich auf Orte und Systeme, die könnte ich mir gar nicht ausdenken, wenn ich sie nicht finden würde."

Heute, knapp dreißig Jahre und 18 Filme später, gibt es kaum einen Filmpreis, den er nicht gewonnen hat. Das hat nicht nur mit seinen Themen zu tun, die sich oft an aktuelle Debatten anlehnen. Wie bei HOMO SAPIENS, der sich nahtlos in die Diskussion um das Anthropozän einreihen könnte. Durch seinen minimalistischen Ansatz, der den Zuschauer*innen jeglichen Kommentar verweigert, durch das Bestehen auf einer ganz eigenen Erfahrung der filmischen Zeit, entsteigen seine Arbeiten stets der aktuellen Debatte und erinnern uns daran, dass es im Kino um mehr geht als das reine Kopf-Erleben. Das wahre Kino trifft einen immer auch zwei, drei Handbreit tiefer. Man könnte meinen, dass sein Blick eine formale Strenge hat, die seinen Filmen etwas Monumentales verleihen soll. Aber nichts ist weniger wahr als das. „Die Regel ist ganz einfach“, so Nikolaus Geyrhalter. „Es ist auch immer die gleiche: Du musst mit den Menschen vor Ort Zeit verbringen.“ Und so ist er ein ums andere Mal etwa an den Brenner zurückgekehrt für DIE BAULICHE MASSNAHME, wo seine Protagonist*innen sich dem Film und damit uns öffnen.

Beim DOK.fest München 2023 wird es nicht nur die Freude über die alten „Klassiker“ sondern auch auf eine Premiere geben: Der auf vielen Festivals lang erwartete „Geyrhalter über Müll“, MATTER OUT OF PLACE, ist da! 

Wir freuen uns auf die sechs Filme eines Regisseurs, dessen Arbeiten immer auch eine tiefe Verneigung vor dem Dokumentarischen sind.

Nikolaus Geyrhalter wird beim Festival zu Gast sein und seine Filme dem Publikum persönlich vorstellen.

 

HOMO SAPIENS, Österreich 2016, Nikolaus Geyrhalter

 

Die Filme

ABENDLAND
Österreich 2011, Nikolaus Geyrhalter, 90 Min.

Europa in der Nacht. Ein Callgirl, das für sich Werbung macht, Menschen am Paketband, die sortieren müssen, Castor-Demonstrierende, die an den Gleisen „Wir sind das Volk” skandieren, eine Polizeistreife, die jemanden in Gewahrsam nehmen will: ABENDLAND fügt in einer assoziativen Reise Impressionen zu einem Bilderreigen, in dem sich das Politische des Alltags unwillkürlich offenbart.

 

DIE BAULICHE MASSNAHME
Österreich 2018, Nikolaus Geyrhalter, 112 Min.

Grenzpass Brenner: Im Frühjahr 2016 ergreifen Politiker*innen Maßnahmen, um zu verhindern, dass in Österreich erneut viele Geflüchtete ankommen. Es ist ein Zaun im Gespräch und Grenzkontrollen zwischen Nord- und Südtirol sollen erstmals seit zwanzig Jahren wieder eingeführt werden. Die „bauliche Maßnahme“ stößt bei vielen im Grenzgebiet Tirols nicht auf Gegenliebe, andere fürchten die vermeintlich drohende „Überfremdung“ der Heimat.

 

HOMO SAPIENS
Österreich 2016, Nikolaus Geyrhalter, 90 Min.

Wie sähe die Welt ohne Menschen aus? Wenn sie von einem Tag auf den anderen vom Erdboden verschluckt würden? Durch Ruinen von Schlachthöfen wehte der Wind, Einkaufszentren lägen brach und langsam, ganz leise, deckte der Schnee den Beton zu. HOMO SAPIENS ist eine dokumentarische Reise genau dorthin, in diese Welt ohne Menschen und ohne Sprache.

 

MATTER OUT OF PLACE
Österreich 2022, Nikolaus Geyrhalter, 106 Min.

Globale Vermüllung – ein aussichtsloser Kampf? Scheinbar mühelos fügen sich die „matter out of place“ – Dinge, die nicht Teil der ursprünglichen Umwelt sind – in die Landschaften, überwuchern Strände, Berggipfel und den Meeresgrund, während sich Menschen und Maschinen in einem endlosen Kreislauf an ihnen abarbeiten. Ein Film von ruhiger, oft verstörender Schönheit, der alarmierender nicht sein könnte.

 

PRIPYAT
Österreich 1999, Nikolaus Geyrhalter, 100 Min.

Spezialkleidung, dosimetrische Checks, Militärüberwachung: 1999 sind die 30 Kilometer um das Kernkraftwerk Tschernobyl und die Stadt Pripyat „Sperrzone”, die meisten Dörfer wurden evakuiert. Früher haben hier alle Sport gemacht, heute soll man nichts essen, nichts trinken, keinen Staub einatmen – dennoch versuchen Menschen zwölf Jahre später hier, in der hoch kontaminierten Geisterstadt, zu überleben.

 

UNSER TÄGLICH BROT
Österreich 2005, Nikolaus Geyrhalter, 92 Min.

Was bzw. wen essen wir eigentlich? Nikolaus Geyrhalter führt mitten hinein in die Welt der High-Tech-Landwirtschaft und industriellen Nahrungsmittelproduktion: Ein Schlauch saugt Lachse aus einem Fjord, Sonnenblumenfelder werden mit Chemie termingerecht zum Verblühen gebracht, Hühner im Sekundentakt zerteilt. Ein Bildermahl, das ohne menschliche Sprache auskommt und uns gehörig auf den Magen schlägt.