Ich sehe das Andere
Hommage DOK.fest München 2022: Heidi Specogna
Alles, was ich für meine spätere Arbeit, für das Filmemachen gebrauchen konnte, habe ich am Jurasüdfuß gelernt. Am wichtigsten: die Neugier auf das Andere, auf das Fremde. Auf die Menschen, die auf der anderen Seeseite leben. Die Menschen, die französisch sprechen. Die Menschen, die vom Jura kommen. Die Menschen, die uns auf der Durchreise besuchen. Hier habe ich gelernt, über das Andere, das Fremde zu staunen und Fragen zu stellen.
Dokumentarfilm als Betrachtung, als Erlebnis bedeutet, die Zuschauerinnen und Zuschauer auf eine Erfahrungsreise mitzunehmen. Zu diesen Anderen, zum Fremden. In den Worten von Emmanuel Levinas: Einem Menschen zu begegnen heißt, von einem Rätsel wachgehalten zu werden.
Der Dokumentarfilm vermag etwas auszurichten. Nicht der einzelne Dokumentarfilm, ich meine den Geist, aus dem er hervorgeht. Er ist Wegweiser zu inneren Orten, wo menschliche Erfahrung herrührt. Er bringt uns in Berührung mit einem Wissen um das, was gut und was böse ist. In einer aufrichtigen dokumentarischen Erzählung erfahren wir etwas über zwischenmenschliche Beziehungen, über universelle, ethische Entscheidungen, über authentische Emotionen.
Dokumentarfilme wirken über die Kraft, die sie in den Zuschauerinnen und Zuschauern wecken. Über den Drang, das Innenleben von Menschen verstehen oder ergründen zu wollen: ihre Werte, ihre Verrücktheiten, ihre Ängste, die Augenblicke ihrer Größe. Dieser Wunsch weckt jenes politische Bewusstsein, ohne das eine Wendung zum Guten sich nicht einleiten ließe. Bei Elias Canetti findet sich ein Gedanke, der für mich an den Kern der Dokumentarfilmkunst rührt: Canetti unterscheidet darin zweierlei Geister: solche, die sich in Wunden und solche, die sich in Häusern niederlassen und dort verschanzen. Die Wunde ist in diesem Bild die Öffnung, durch die das Andere eintritt. Das Ohr, die Augen, die sich für den Anderen öffnen. Heidi Specogna
Im Rahmen der Hommage geben wir beim 37. DOK.fest München in sechs Filmen Einblicke in die künstlerische Arbeit der Schweizer Filmemacherin Heidi Specogna.
Die Filme
CAHIER AFRICAIN
Deutschland/Schweiz 2016, Heidi Specogna, 119 Min.
Von außen betrachtet ist das “Cahier Africain” ein einfaches Schulheft. Schlägt man es auf, ahnt man seine zeithistorische und rechtliche Bedeutung: über 300 Opfer sexueller und kriegerischer Gewalt durch kongolesische Rebellen in der Zentralafrikanischen Republik legten hier Zeugnis ab. Ein Zeitdokument jenseits verkürzter Konfliktberichterstattung.
CARTE BLANCHE
Deutschland/Schweiz 2011, Heidi Specogna, 91 Min.
Sichtbarmachen, was sonst Unsagbar bleibt. Specogna begleitet die Ermittler des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag bei ihrer Arbeit im Prozess gegen den kongolesischen Militär Jean-Pierre Bemba, der in den Jahren 2002/03 für systematische Vergewaltigungen und Plünderungen durch seine Truppen in Zentralafrika zur Verantwortung gezogen werden soll.
DAS KURZE LEBEN DES JOSÉ ANTONIO GUTIERREZ
Deutschland/Schweiz 2006, Heidi Specogna, 94 Min.
Vom Straßenkind zum Nationalhelden: José Antonio Gutierrez ist der erste US-Soldat, der im Irakkrieg gefallen ist. Er hat sich jedoch nicht für sein Land geopfert. Als Waise im bürgerkriegsgebeutelten Guatemala machte er sich in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft auf den beschwerlichen Weg Richtung USA – wo die Greencard als Lohn für Militärdienst lockt.
Die Regisseurin ist zu Gast für ein Q&A bei der Filmvorführung am Sonntag 08. Mai um 11.00 Uhr im City Kino 2.
DAS SCHIFF DES TORJÄGERS
Deutschland/Schweiz 2010, Heidi Specogna, 94 Min.
2001 gerät die Fähre des Bundesligaspielers Jonathan Akpoborie wegen des Verdachts auf Kindersklaventransport in die Schlagzeilen. Heidi Specogna rekonstruiert die Geschichte aus allen Blickwinkeln, wobei ihr das Schicksal der damals von ihren Eltern verkauften und traumatisierten Kindern wichtiger ist als die eigentliche Schuldfrage. Wie geht es ihnen heute?
Die Regisseurin ist zu Gast für ein Q&A bei der Filmvorführung am Sonntag 08. Mai um 18.00 Uhr im Filmmuseum.
STAND UP MY BEAUTY
Schweiz/Deutschland 2021, Heidi Specogna, 110 Min.
Es ist ein langer und steiniger Weg, aber Nardos hat ihr Ziel fest im Blick: In einer Zeit, in der sich ihr Land und ihr eigenes Leben im Umbruch befinden, möchte die Sängerin traditioneller äthiopischer Azmari-Musik durch ihre Lieder Frauen eine Stimme geben. Denn diese bleiben mit ihren Wünschen und Träumen oft hinter verschlossenen Türen sitzen.
Die Regisseurin ist zu Gast für ein Q&A bei der Filmvorführung am Samstag 07. Mai um 20.30 Uhr im Filmmuseum.
TUPAMAROS
Deutschland/Schweiz 1997, Heidi Specogna, 93 Min.
Guerillero, Blumenzüchter, Abgeordneter. Der Revolutionär Pepe Mujica erinnert sich zusammen mit Compañeras und Compañeros an die „Bewegung für die nationale Befreiung“ Uruguays: An die Zeit im Untergrund, die Folterungen durch die Militärdiktatur und den weltweit größten Gefängnisausbruch. Eine Geschichte vom ewigen Kampf für den sozialen Wandel.
Die Regisseurin ist zu Gast für ein Q&A bei der Filmvorführung am Freitag 06. Mai um 20.30 Uhr im Filmmuseum.
In Kooperation mit SWISS FILMS
Sowohl die Masterclass bei der DOK.fest-Branchenplattform DOK.forum als auch die Hommage finden mit freundlicher Unterstützung von SWISS FILMS statt, die dieses Jahr auch Filme des DOK.fest Wettbewerbs rund um den VIKTOR DOK.deutsch unterstützen: GIRL GANG, SCHWARZARBEIT, ROTZLOCH - ICH ZWINGE DICH NICHT, MICH ZU UMARMEN und DEAR MEMORIES - EINE REISE MIT DEM MAGNUM FOTOGRAFEN THOMAS HOEPKER.